Ich habe mir überlegt, dass ich von heute an regelmäßig (angestrebt ist fürs erste einmal die Woche) einen etwas ausführlicheren Artikel zu einem Thema, das mich selbst interessiert und beschäftigt, veröffentlichen möchte. Für den ersten Zeitraum habe ich beschlossen, das Thema Nordische Mythologie auszuwählen und einzelne Facetten näher vorzustellen.
Ich interessiere mich sehr für Geschichte und Geschichten und studiere außerdem Skandinavistik – was lag also für den Anfang näher als die Welt der nordischen Mythen? Beginnen möchte ich die Serie heute mit einer allgemeinen Fragestellung:

Was versteht man eigentlich unter dem Begriff ‚Nordische Mythologie‘?

Dann also mal los: Unter der Überschrift „Nordische Mythologie“ fasst man die Mythen der skandinavischen Länder aus der vorchristlichen Zeit zusammen. Wer sich mit dieser Mythologie beschäftigen möchte, beschäftigt sich also im Wesentlichen auch immer mit der frühen Geschichte von Dänemark, Schweden, Norwegen und Island. Die Mythen weisen jedoch auch eine gewisse Ähnlichkeit mit den festlandgermanischen Mythen auf. Viele der Mythen handeln von vorchristlichen Göttern und ihren Taten und geben somit auch einen Einblick in die vochristliche Religionswelt in Skandinavien. Hierbei muss man jedoch vorsichtig sein, da viele der uns heute vorliegenden Quellen aus christlicher Zeit stammen und somit kein authentisches Bild vorchristlichen Glaubens geben. Hinzu kommt, dass der vorchristliche Glaube in Skandinavien keineswegs einheitlich war. So wurden beispielsweise an verschiedenen Orten unterschiedliche Götter bevorzugt.
Finnland bleibt in diesem Rahmen übrigens – obwohl zu den nordischen Ländern gehörend – weitestgehend außen vor, da der sprachliche und kulturelle Hintergrund der Finnen ein ganz anderer ist.

Woher stammt unser heutiges Wissen zur nordischen Mythologie?


Die nordischen Mythen, die wir heute kennen, stammen aus einer Zeit, in der Schriftlichkeit noch nicht weit verbreitet war. Trotzdem wissen wir heute ja einiges über diese Mythologie. Um zu erläutern, wie es dazu kommt, möchte ich hier kurz auf die uns zur Verfügung stehenden Quellen eingehen:

1. Archäologische Quellen:

Archäologische Quellen sind wichtige Zeitzeugnisse des Lebens im vorchristlichen Skandinavien. Einige Funde zeigen dabei Motive aus der nordischen Mythologie. Beispiele hierfür wären unter anderem Amulette mit Thorshämmern oder Runen- und Bildsteine, die bekannte Motive nordischer Mythen darstellen. So fand man beispielsweise auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland einen Bildstein, auf dem unter anderem Odins achtbeiniges Pferd Sleipnir abgebildet ist.
Bei der Betrachtung solcher archäologischen Quellen für sich alleine gibt es natürlich ein Problem: Hätten wir nur diese Quellen, vermochten wir sie häufig gar nicht richtig zu deuten. Wer sollte beispielsweise ein in einem Grab gefundenes, hammerförmiges Amulett mit einem Gott namens Thor in Verbindung bringen, wüsste er nicht aus anderer Quelle von der Existenz jenes nordischen Gottes. Auch ein achtbeiniges Pferd auf einem Stein käme uns ohne das nötige Hintergrundwissen wohl eher seltsam vor. Trotzdem gibt es etwas, das diese Funde enorm wichtig macht: durch sie kann nämlich gezeigt werden, dass es sich bei den Göttern wie Thor oder Odin tatsächlich um Gestalten handelt, die für die in einer bestimmten Zeit lebenden Menschen eine besondere Bedeutung besaßen. Es handelt sich hierbei also nicht einfach um nette Geschichten, die man sich in der winterlichen Langeweile am Feuer erzählte, sonst hätte man sie kaum in der Kunst verewigt oder sich mit einem Amulett, welches eindeutig mit einem dieser Götter in Verbindung steht, begraben lassen.

2. Schriftliche Quellen:


Dass wir heute so viel über die nordische Mythologie wissen, liegt jedoch vor allem an der recht guten Lage an schriftlichen Quellen – auch wenn diese Quellen leider gewisse Tücken aufweisen.
Die frühsten schriftlichen Quellen zur nordischen Mythologie stammen – wie könnte es anders sein – von den Römern, die ja bekanntlich äußerst fleißig waren im Sammeln von Wissen in schriftlicher Form. Gerne genannt wird in diesem Zusammenhang Tacitus mit seiner „Germania“ aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Leider sind die römischen Quellen in religiösen Fragen meist eher kurz und allgemein gehalten, oft stehen hinter ihnen auch noch ganz eigene ideologische Absichten der Verfasser. Götternamen wurden zudem oft nicht übernommen, sondern quasi in den römischen Götterkosmos übertragen.

Hintergedanken machen auch andere Quellen, wie die Aufzeichnungen des Kirchenmannes Adam von Bremen, zu einem mit Vorsicht zu betrachtenden Genuss.

Viel interessanter und ergiebiger gestaltet sich da ein Blick in das mittelalterliche Island. Das Zauberwort heißt hier Edda – ein Wort übrigens, dessen genaue Bedeutung und Ursprung bis heute im Dunkeln liegen.

Unter diesem Begriff versteht man heute zwei verschiedene Schriften. Zum einen wäre das die so genannte Lieder-Edda, auch als ältere Edda bekannt, die sich der nordischen Mythologie in Versform annähert. Die Verfasser hinter den Liedern sind unbekannt, ebenso ihre genaue Entstehungszeit. In der Form, die wir heute kennen, stammt sie jedoch aus dem Island des 13. Jahrhundert. Ursprünglich besaß diese Schrift gar keinen Titel und wurde erst nachträglich Edda genannt, wohl in Anlehnung an einen anderen Text, auf den ich noch zu sprechen kommen werde, weswegen wir heute eben von zwei verschiedenen Texten als Edda sprechen.
Obwohl die Textsammlung aus dem christlichen Mittelalter stammt, enthält sie weitaus ältere Stoffe aus der Zeit mündlicher Überlieferungen. Durch die Versform konnten sich solche Texte oft über einen langen Zeitraum ohne größere Veränderungen retten, weshalb man davon ausgehen kann, dass nicht zu verachtende Teile der Lieder noch in relativ ursprünglicher Form vorliegen. Trotzdem ist es äußerst wahrscheinlich, dass sich auch spätere Einflüsse in ihnen wiederspiegeln. Man darf sie also nicht unkritisch als Dokumente vorchristlichen Glaubens betrachten.

Die andere Edda kennt man unter dem Namen Prosa-Edda, auch oft als jüngere Edda bezeichnet. Zugeschrieben wird sie dem isländischen Skalden (das waren die norwegischen und isländischen Dichter der Wikingerzeit und des Mittelalters) Snorri Sturluson, auch wenn dieser sie möglicherweise nur in Teilen verfasst hat. Eigentlich ein Handbuch für angehende Skalden, enthält sie viele wertvolle Quellen zur nordischen Mythologie.
Man geht heute davon aus, dass Snorri bei seiner Arbeit unter anderem auch Lieder der älteren Edda als Quelle nutzte. Darüber hinaus müssen ihm aber auch noch andere, möglicherweise auch nur mündlich überlieferte Quellen zur Verfügung gestanden haben, die heute jedoch als verloren gelten. Erschienen ist die Prosa-Edda im 13. Jahrhundert und stammt damit ebenfalls aus einer Zeit, in der der Glaube an die alten Götter schon lange der Vergangenheit angehörte. Nur zur Veranschaulichung: Island, wo die Schrift verfasst wurde, nahm im Jahr 1000 das Christentum an. Entsprechend enthält die Prosa-Edda auch ein Vorwort, das den Glauben an die alten Götter als Irrglauben der Vergangenheit abtut. Dennoch beschäftigt sich der Text ausgiebig mit eben jenem alten Glauben und gibt viele Informationen über die vorchristlichen Vorstellungen zur Entstehung, zum Funktionieren und zum zu erwartenden Untergang der Welt. Die Prosa-Edda ist also eine unerlässliche Quelle, wenn man sich mit der nordischen Mythologie beschäftigen möchte.

Dies soll als Einführung in das Thema auch erst einmal genügen. In der nächsten Woche möchte ich mich dann etwas näher mit dem Bild der Welt beschäftigen, das in der nordischen Mythologie gezeichnet wird.
Ich hoffe, Ihr fandet diesen kleinen Exkurs interessant oder nützlich und lest auch nächstes Mal wieder rein.
Die nordische Mythologie ist ein komplexes Thema und ich habe versucht, diese Einführung möglichst einfach, aber dennoch vollständig und verständlich zu gestalten. Wenn ihr dennoch Fehler entdeckt oder Ergänzungen machen wollt, würde ich mich über einen Kommentar oder eine Nachricht freuen.

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Zum Abschluss hier noch eine kurze Übersicht über von mir verwendete, hilfreiche Literatur:

Edda. Die Götter- und Heldenlieder der Germanen. Nach der Handschrift des Brynjolfur Sveinsson. Übertragen von Karl Simrock. Anaconda Verlag 2007. (Neuauflage einer alten, aber guten Edda-Übersetzung. Ohne Schnick und Schnack, dafür unschlagbar günstig.)

Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause. Reclam 1997. (Wer nicht gerade plant, sich selbst zum Skalden ausbilden zu lassen, fährt mit dieser Auswahl aus der Snorra-Edda sehr gut. Hier gibt es viel über die nordische Mythologie zu lernen und außerdem hilfreiche Anmerkungen sowie ein Nachwort von Arnulf Krause, der wohl zu den wichtigsten gegenwärtigen Skandinavisten in Deutschland zählt, und das alles natürlich zum immer fairen Reclam-Preis.)

Heiko Uecker: Geschichte der altnordischen Literatur. Reclam 2004. (Deutsches Standardwerk zur mittelalterlichen skandinavischen Literatur. Gehört ins Bücherregal jedes Skandinavisten. Das Buch enthält einen ausführlichen Teil zur eddischen Literatur und bietet sich als Unterstützung zum Lesen der manchmal nicht ganz einfach verständlichen Lieder-Edda an.)